«Schönreden ist unehrlich» – Strukturelle Probleme des Vorsorgesystems müssen angegangen werden

In einem Interview in der «Finanz und Wirtschaft» spricht unser Forschungsleiter Sozialpolitik über den Druck, unter dem die Vorsorge heute an allen Fronten steht. Jérôme Cosandey konstatiert, dass es eine Rentenreform brauche, die Opfer von Jung und Alt verlangt. Das ist politisch zwar nicht attraktiv, aber die Realität.

«Finanz und Wirtschaft»: Herr Cosandey, wie beurteilt die Denkfabrik Avenir Suisse die Belastung durch Demografie und Niedrigzinsen für unser Vorsorgesystem?

Jérôme Cosandey: Diversifikation ist ein wichtiges, stabilisierendes Element unserer Altersvorsorge: Während die AHV vor allem Risiken der Demografie und der inländischen Konjunktur ausgesetzt ist, sind zweite und dritte Säule primär den internationalen Kapitalmärkten ausgeliefert. Trotz Diversifikation steht die Vorsorge heute an allen Fronten unter Druck. Anpassungen sind in jeder Säule nötig, ohne aber das Gesamtsystem infrage stellen zu müssen.

Wann ist die Belastungsgrenze für die jüngeren Generationen, die einer wachsenden Zahl älterer Leute gegenüberstehen, überschritten?

Die AHV schrieb 2014 rote Zahlen von 0,5 Mrd. Fr., und in der beruflichen Vorsorge finden systemwidrige Umverteilungen von bis 50 000 fr. pro Neurentner statt – auf Kosten der aktiven Bevölkerung. Die Frage lautet nicht, wann die Belastungsgrenze überschritten ist, sondern, wie lange man solche Zustände dulden will. Es braucht eine Lösung, die Opfer von Jung und Alt verlangt. Das ist politisch zwar nicht attraktiv, aber die Realität. Schönreden ist unehrlich.

Alterspyramide

Mit der «Altersvorsorge 2020» will der Bundesrat AHV und berufliche Vorsorge revidieren. Wie sind die Erfolgsaussichten?

Der Ständerat hat die Vorlage mit einem Ausbau der AHV angereichert. Das hat in einer Reform, die vor allem die finanzielle Sicherheit gewährleisten muss, keinen Platz. Die Kommission des Nationalrats hat dies korrigiert, dafür die Reform mit politisch heiklen Vorschlägen beladen: Kürzung der Witwenrente, unvollständige Kompensation der Senkung des Umwandlungssatzes. Die Bereinigung zwischen beiden Kammern wird dadurch komplex. Es braucht einen Kraftakt, um rechtzeitig ein mehrheitsfähiges Paket zu schnüren.

Warum tut sich die Schweiz so schwer mit der Reform der Vorsorge?

Vorsorgereformen sind überall schwierig. Anders als bei einer Revision der Invaliden- oder der Arbeitslosenversicherung hoffen bei der Altersvorsorge alle, einmal eine Rente zu erhalten. Leistungsanpassungen sind deshalb unpopulär. Zudem geht es uns in der Schweiz immer noch gut, die Renten werden bezahlt, die Staatsverschuldung ist niedrig. In anderen Ländern, die vor allem staatlich finanzierte Vorsorgesysteme kennen, hat die prekäre Haushaltsituation geholfen, die Reformdiskussionen zu fokussieren. So wurde in achtzehn OECD-Ländern ein gesetzliches Rentenalter von 67 bzw. 68 Jahren bereits beschlossen. Die Schweiz hinkt trotz einer der höchsten Lebenserwartungen der Welt hinterher.

Würde man das Vorsorgesystem heute neu bauen, wie sähe es aus?

Grundsätzlich würde ich weiterhin auf dem bewährten Dreisäulenkonzept aufbauen. In der ersten Säule wäre jedoch auf die Rentenanpassung mit dem Mischindex zu verzichten. Dafür würde ich für die Bestimmung der Pension von Neurentnern zwar die Lohnentwicklung berücksichtigen, die so ermittelte Rente nachher jedoch nur noch an die Teuerung anpassen.

Und in der zweiten Säule?

Ich würde, wie in Liechtenstein, Mindestzins und Umwandlungssatz nicht im Gesetz verankern, sondern den paritätisch besetzen Stiftungsräten übertragen. Auf den Koordinationsabzug, der Teilzeitangestellte benachteiligt, wäre zu verzichten. Die Arbeitnehmer sollten für die Verwaltung ihrer BVG-Ersparnisse die Pensionskasse wählen können, und in beiden Säulen sollte das Pensionsalter voll flexibilisiert werden.

Wie sieht das Schweizer Vorsorgewesen in zehn Jahren aus?

Ich gehe davon aus, dass das Parlament eine Reform des kleinsten gemeinsamen Nenners verabschieden wird. Das gibt Luft für höchstens zehn Jahre, ohne dass strukturelle Probleme wie dasjenige des Rentenalters angegangen werden. Bedenkt man, dass die AHV letztmals 1994 und die berufliche Vorsorge 2003 revidiert wurde, ist für die nächsten Anpassungen keine Zeit zu verlieren. Es wird also gleich die nächste Reform anstehen.


Dr. Cosandey setzt sich seit 2011 als Senior Fellow und Forschungsleiter Sozialpolitik von Avenir Suisse mit dem Reformbedarf in der Altersvorsorge, der Organisation und Finanzierung der Alterspflege und Fragen der Altersarbeit auseinander. Nach seiner Promotion an der ETH war er mehrere Jahre als Strategieberater bei The Boston Consulting Group, danach bei der UBS tätig. Jérôme Cosandey hält zudem einen Master der Universität Genf in internationaler Wirtschaftsgeschichte.


Quelle: Avenir Suisse
23.09.2016