«Herr Frost, können Sie Windeln wechseln?»

Die demografische Entwicklung fordert Swiss Life auch als Arbeitgeber. «Da haben wir noch zu wenig gemacht», gesteht CEO Patrick Frost, der sich privat auf Nachwuchs freut.

Herr Frost, können Sie Windeln wechseln?
Patrick Frost: Selbstverständlich. Am Wochenende gehört das zu meinem Job.

Gegenüber einem Journalisten sagten Sie, die Familie sei Ihr Hobby. Wie können Sie nur.
Es ist das Los eines CEO, dass man manchmal Sachen über sich liest, die man so nicht gesagt hat.

Vater zu sein, ist doch eine verantwortungsvolle Aufgabe.
Absolut. Deshalb würde ich die Familie nie als Hobby bezeichnen. Das ist eine schreckliche Aussage.

Wie haben Sie es denn gesagt?
Ich sagte, ich hätte keine Zeit für ein Hobby. Ich möchte die ganze Freizeit mit meiner Familie verbringen.

Wenn eine Mutter einen Topjob übernimmt, wollen Journalisten wissen, wie sie Beruf und Familie unter einen Hut bringt. In der heutigen Zeit müsste man das auch Väter fragen.
Durchaus. Ich bin relativ spät Vater geworden. Da nimmt man das Vatersein vielleicht etwas bewusster wahr als in jungen Jahren. Meine Tochter ist zweieinhalb. Und in den nächsten Wochen gibt es erneut Nachwuchs. Da möchte ich möglichst viel Zeit mit der Familie verbringen.

Wie schaffen Sie das?
Ich versuche, mindestens einmal pro Woche früher nach Hause zu kommen, um meine Tochter ins Bett zu bringen. Mindestens einmal pro Woche gehe ich später ins Büro. Und das Wochenende gehört meistens der Familie.

Sie sind Naturwissenschafter, Ökonom und auch noch Jurist. Was sind Sie wirklich?
Meine beiden Grossväter waren Chemiker, mein Vater war als Arzt in der Forschung tätig, sodass mir nichts Besseres eingefallen war, als an der ETH Naturwissenschaften zu studieren. Wir hatten aber tolle Vorlesungen in Volkswirtschaft, sodass ich mich dann in Köln für ein Ökonomiestudium eingeschrieben habe. Heute bezeichne ich mich als Ökonomen. Das ist das Studium, das mich am meisten prägte.

Dann sind Sie ja auch noch Jurist.
Ja, ich arbeitete Teilzeit an der Dissertation in Ökonomie und fand noch Zeit, das Jurastudium nachzuholen.

Von welchem der drei Studien profitieren Sie heute als Wirtschaftskapitän am meisten?
Vom Studium der Naturwissenschaften.

Warum sehen Sie sich vor allem als Ökonomen? Naturwissenschafter lachen doch über Ökonomen, die so tun, als wäre Volkswirtschaft eine exakte Wissenschaft.
Das stimmt. Als ich die ersten ökonomischen Studien las, konnte ich deren Ergebnisse auch nicht immer nachvollziehen. Ökonomen können im Unterschied zu Naturwissenschaftern kaum Experimente durchführen. Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft. Aber mit ihren mathematischen Modellen erwecken Ökonomen manchmal tatsächlich den Eindruck, sie würden eine exakte Wissenschaft betreiben.

Warum hilft Ihnen heute die ­naturwissenschaftliche Aus­bildung?
Die analytische Ausbildung und das Denken in Modellen spielen eine immer wichtigere Rolle. Man denke nur an die Finanzmarktaufsicht, die uns Versicherern im Nachgang zur Finanzkrise stets höhere Auflagen macht. Die Berechnung der Solvenz und der Kapitalerfordernisse ist sehr kompliziert. Ich will nicht behaupten, dass ich die Modellberechnungen im Detail verstehe. Zumindest weiss ich aber dank meiner analytischen und mathematischen Ausbildung, wovon die Rede ist.

Warum macht eigentlich die ­Finma höhere Auflagen? Die Versicherungsgesellschaften sind ja schlank durch die Finanzkrise ­gekommen.
Das frage ich manchmal auch. Es gab ja schon 2002/2003 eine Finanzkrise. Damals sind die Aufsichtsbehörden Europas zum Schluss gekommen, dass die gültige Regulierung nicht genüge. Der europaweit gültige Standard Solvency II ist eine Folge davon, das schweizerische Pendant, der Swiss Solvency Test (SST), ebenso.

Ist es nicht so, dass die Schweiz, also die Finma, noch strengere Vorgaben macht, als es in Solvency II vorgesehen ist?
Doch. Die Schweiz hat SST früher eingeführt als die EU Solvency II. Zudem ist die hiesige Regulierung erst noch viel strenger als jene in der EU. Das finden wir nicht gerechtfertigt und schadet dem Versicherungsstandort Schweiz.

Erhielten Sie aus Bundesbern Signale, dass Swiss Life als «too big to fail» eingestuft werden könnte?
Nein, es gibt auch keinen Grund dazu.

Wenn Swiss Life als Marktleader bei den Rentenversicherungen in Konkurs geht, haben wir in der Schweiz ein gröberes Problem, und der Staat müsste eingreifen.
Wir sind sehr streng kontrolliert und so aufgestellt, dass wir die schwersten Krisen überleben würden.

Anfang 2008 hätte auch niemand daran geglaubt, dass die UBS vom Staat gerettet werden müsste.
Banken und Versicherungen haben ganz andere Anforderungen. Ein Bankkunde kann jederzeit von der Bank sein Geld verlangen. Banken haben liquide Verbindlichkeiten und illiquide Finanzanlagen. Und die Versicherungen haben illiquide Verbindlichkeiten und liquide Anlagen. Bei uns kann niemand in die Empfangshalle kommen und sein ganzes Geld verlangen. Kommt es zu Verlusten wie im Jahr 2008, tragen diese die Investoren.

Anfang 2008 hat ein Mann die Société Générale um 8 Milliarden Franken geprellt. Später erleichterte ein gewisser Kweku Adoboli die UBS in London um 2,3 Milliarden Dollar. Betrügereien kann man nie ausschliessen.
Es sind Händler, die solche Verluste in Milliardenhöhe verursachten. Ich will nicht sagen, dass bei uns keine Fehler passieren. Aber wir führen keine Handelsabteilung wie die Banken. Wir haben ein Portfoliomanagement, das langfristige Anlagen tätigt. Und wenn mal ein Fehler passiert, so geht das um Hunderttausende von Franken und nicht um Milliarden.

Wie halten Sie es bei Swiss Life mit dem Inländervorrang?
Wir sind froh, dass wir – etwa in der Informatik oder bei Aktuaren – auf ausländische Arbeitskräfte zurückgreifen können. Der Ausländeranteil liegt bei 17 Prozent, also etwa im schweizerischen Mittel. Es wäre für uns ein Nachteil, wenn wir eine Bürokratie aufbauen müssten, um Ausländer anstellen zu können.

Als Vorstandsmitglied von ­Economiesuisse sind Sie auch politisch aktiv. Wie lautet Ihre Antwort auf das Ja der Masseneinwanderungsinitiative?
Am ehesten überzeugt mich der Vorschlag von Economiesuisse, der nun vom Bundesrat aufgegriffen wurde. Wir handeln mit der EU eine Schutzklausel aus. Sobald eine bestimmte Limite der Einwanderung überschritten ist, müssten wir sie begrenzen.

Und wenn die EU nicht darauf eintritt?
Dann müssten wir die Schutzklausel wohl einseitig einführen und die Reaktion der EU abwarten. Bei Swiss Life könnten wir mit dieser Lösung gut leben. Wir sind nicht im gleichen Mass auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen wie andere Branchen. Tangiert wären wir aber auch als grösster privater Liegenschaftsbesitzer der Schweiz.

Wie das?
Bei der Beschränkung der Zuwanderung nimmt die Nachfrage nach Büroflächen ab. Es gäbe weniger Arbeitsplätze und weniger Firmengründungen. Wir hätten dann eine höhere Leerstandsquote und damit entgangene Mieterträge in Kauf zu nehmen.

Gut für uns Schweizer, wenn die Mieten runterkommen . . .
Im Bürobereich mag das stimmen. Für Mietwohnungen wird dies aber kaum eintreten und ist zu eng gedacht. Unsere Wirtschaft und damit unser Land braucht die Zuwanderung. Zudem: Die Mieten sind heutzutage auch höher, weil die Menschen mehr Raumfläche beanspruchen.

Mit der Begrenzung der Zuwanderung wird der drohende Arbeitskräftemangel zusätzlich
verschärft. In den nächsten zehn Jahren gehen im Schnitt 50’000 mehr Leute in Pension als nachrücken werden. Was ist die Antwort von Swiss Life auf diesen Trend?
Die demografische Entwicklung fordert uns: Als Lebensversicherer müssen wir den Leuten Lösungen anbieten, die der längeren Lebenserwartung Rechnung tragen. So haben wir eben ein Produkt lanciert, das die höhere Lebenserwartung abbildet und pensionierten Kunden mehr Flexibilität verschafft.

Als Anbieter von Versicherungslösungen haben Sie reagiert. Wie stehts als Arbeitgeber?
Da haben wir noch zu wenig gemacht. Dieses Problem wird meines Erachtens unterschätzt. Wir sind jetzt daran, bessere Rahmenbedingungen und Anreize zu schaffen, damit unsere Angestellten über das Rentenalter hinaus erwerbstätig bleiben. Im Aussendienst haben wir zusätzliche Möglichkeiten geschaffen. Nun werden wir auch im Innendienst Massnahmen ergreifen.

Was sind das für Massnahmen?
Wir müssen flexiblere Arbeitsmodelle anbieten, damit die Leute Teilzeit und auf Wunsch von zu Hause aus arbeiten können. Wir müssen die älteren Arbeitnehmer dafür gewinnen, ihr Wissen über das offizielle Pensionierungsalter hinaus einzubringen. Wir haben die Voraussetzung geschaffen, indem sie über das offizielle Rentenalter hinaus in der Pensionskasse versichert sein können.

Vielleicht verspricht Ihre Pensionskasse zu grosszügige Leistungen an. So fehlt der Anreiz, länger als nötig einer Arbeit nachzugehen.
Wenn wir die Leistungen der Pensionskasse kürzen, wäre das für unsere Leute kaum motivierend, länger im Arbeitsprozess zu bleiben. Wir möchten den Mitarbeitern vielmehr klarmachen, dass ihre Erfahrung für unser Unternehmen sehr wertvoll ist. Zudem arbeiten viele Leute gerade in interessanten Jobs nicht nur wegen des Geldes. Wichtig ist heutzutage, dass sie Teilzeit arbeiten können.

Was sagen Sie dazu, wie Bundesrat Alain Berset die AHV und die berufliche Vorsorge reformieren will?
Die grundsätzliche Stossrichtung finde ich gut. Ich finde es ebenfalls richtig, dass der Bundesrat beide Säulen, die erste und die zweite Säule, gleichzeitig reformieren will. Natürlich gibt es gewisse Differenzen. Wichtig ist, dass eine mehrheitsfähige Lösung vors Volk kommt.

Der Bundesrat will die Mindestquote heraufsetzen. Daran haben Sie wohl keine Freude.
Mindestens 90 Prozent der Erträge in der beruflichen Vorsorge gehen an die Versicherten. Für uns ist wichtig, dass es bei der Mindestquote von 90 Prozent bleibt, wie das auch der Ständerat vorschlägt.

Dafür will der Ständerat die AHV-Rente um 70 Franken erhöhen. Können Sie diesem Vorschlag zustimmen?
Am Ende muss das Gesamtpaket überzeugen. Swiss Life ist von der AHV nicht direkt betroffen. Mich interessiert vor allem die zweite Säule.

Ich frage hier nicht nur den CEO von Swiss Life, sondern einen Stimmbürger und ein Vorstandsmitglied von Economiesuisse.
Als Ökonomen stelle ich mir wie die bürgerlichen Politiker schon die Frage nach der Nachhaltigkeit der Finanzierung. Dass von linker Seite die Forderung nach einer Erhöhung der AHV erfolgt, rührt daher, dass alle versuchen, das Maximum für ihre Wähler her­auszuholen. Dafür habe ich als Stimmbürger Verständnis.

Apropos Finanzierung: Man könnte Lohnprozente für die AHV erhöhen und Lohnprozente für die zweite Säule senken. Oder anders gesagt: Die erste Säule stärken und die zweite schwächen.
Das fände ich keine gute Lösung. Wir sollten nicht die eine Säule gegenüber der anderen aus­spielen.

Eine Erhöhung der AHV-Rente wird im Nationalrat kaum eine Chance haben.
Ich würde nicht sagen, dass die linke Seite hier chancenlos ist. Es kommt darauf an, wie man die Rentenerhöhung finanzieren will. Es gibt verschiedene Varianten. Man könnte zum Beispiel die Umverteilung so gestalten, dass der Umverteilungsmechanismus innerhalb der AHV verstärkt wird, indem nur die tiefsten Renten erhöht werden. Möglich ist auch eine gestaffelte Erhöhung über Jahrzehnte. Die Politiker sind kreativ. Auch die Bürgerlichen wissen, dass wir ein Paket brauchen, das vor dem Volk eine Chance hat.

Sie sind gegen eine Schwächung der zweiten Säule, da die Lebensversicherer mit der beruflichen Vorsorge schön Geld verdienen.
Wir sind gegen eine Schwächung, weil dies nicht im Interesse der Menschen in diesem Land ist. Wir erwirtschaften in diesem Geschäft 5 bis 7 Prozent auf dem eingesetzten Kapital. Das ist unterdurchschnittlich im Vergleich zu den anderen Geschäftsfeldern. Vor zwei Jahren lag das Betriebsergebnis im Geschäft mit der beruflichen Vorsorge nach Steuern bei 150 Millionen Franken, bei einem Nettogewinn von insgesamt 800 Millionen. Man muss aber auch sehen, dass wir 2008 in diesem Geschäft über eine Milliarde Franken verloren haben. Den Verlust haben wir nun wettgemacht.

Finden Sie es nicht stossend, dass börsenkotierte Gesellschaften an unseren Sozialversicherungen mitverdienen?
Nein, überhaupt nicht. Was ist die Vorsorge? Nichts anderes als ein Sparprozess. Es gibt verschiedene Anbieter in der zweiten Säule. Als Vollversicherer bieten wir Garantien, wie sie sonst niemand bieten kann. Unsere Kunden können in keine Unterdeckung geraten. Wer wie wir Garantien bietet, muss diese mit viel Eigenkapital unterlegen. Über genug Eigen­kapital verfügt, wer an der Börse kotiert ist.

Es gibt autonome Sammelstiftungen, bei denen das Vorsorgegeld im Kreislauf bleibt. Die Versicherer hingegen nehmen Geld aus dem Kreislauf, um Gewinne zu realisieren und den Aktionären auszuschütten.
Das stimmt, hat aber gute Gründe. Autonome Sammelstiftungen bieten keine Garantien.

Wer trägt dann allfällige Ver­luste?
Der Mann und die Frau auf der Strasse. Der grösste Teil unserer Kunden sind KMU. Dort sind Leute am Werk, die mit Versicherungen und Vorsorge möglichst wenig zu tun haben wollen. Sie haben ihr Kerngeschäft, zum Beispiel einen handwerklichen Betrieb, und darauf wollen sie sich konzentrieren. Sie sind froh, dass sie in der beruflichen Vorsorge Garantien haben und sich nicht mit allfälligen Sanierungen ihrer Pensionskasse beschäftigen müssen.

Quelle: Tages-Anzeiger
08.02.2016

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